Surreale Welten – Magnetische Felder: Dies ist das Leitmotiv der zwölften Ausgabe der Eventi letterari Monte Verità, die zweite unter der Leitung von Stefan Zweifel. Zwischen dem 21. und dem 24. März 2024 widmet sich das Festival der drängenden Frage, ob wir angesichts der Risse in unserer Gesellschaft noch von den Sphären des Wunderbaren träumen können. Oder werden wir von den Krisen der politischen Realität im Sekundentakt der News so gebannt, dass keine surrealen Räume zum Träumen mehr bleiben? Vor genau 100 Jahren formierte sich der poetische Widerstand gegen das Diktat der Vernunft und die Zwänge der Realpolitik im Manifest des Surrealismus. Kultautor Merlin Sheldrake erkundet die Wunderwelt der Pilze und Star-Schlagzeuger Jojo Mayer die kreative Kraft der KI im Drumm-Dialog Mensch/Maschine, während Milo Rau mit exklusiven Gästen die Dialektik von Realpolitik und Surrealpolitik in unserer brennenden Gegenwart diskutiert.
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Ascona, 26.02.2024. Die zwölfte Ausgabe der Eventi letterari Monte Verità will den auseinanderstrebenden Tendenzen einer disruptiven Gesellschaft «magnetische Felder» entgegensetzen, von denen all jene Künstler*innen angezogen werden, die an die Kraft der Kreativität glauben. Magnetische Felder hiess der Gründungstext der Surrealisten, gemeinsam verfasst von André Breton und Philippe Soupault. In Anwesenheit von dessen letztem Sekretär Raoul Schrott können unsere Gäste vor Ort und auf Ausflügen, z.B. in das Geburtshaus von Meret Oppenheim, das Gemeinschaftliche als Utopie durchleben. Denn wie Lautréamont schon 1870 prophezeite: «Die Poesie muss von allen gemacht werden. Nicht von einem!»
Rund 30 Autor*innen, Musiker*innen und Künstler*innen umkreisen mit der magnetischen Kraft ihrer Kunst den «Berg der Wahrheit» und bieten ein vielseitiges und internationales Programm: Den Auftakt im PalaCinema Locarno macht der Biologe und Medienstar Merlin Sheldrake, Autor des Kultbuches Verwobenes Leben, mit einem seiner selten gewordenen Auftritte. Der international gefeierte Drummer Jojo Mayer beschliesst das Festival und erforscht in einer Live-Performance auf dem Monte Verità mit KI und Schlagzeug die heutigen Grenzen und künftigen Möglichkeiten der generativen Technologie. Eine Art Fortsetzung der surrealistischen «écriture automatique».
Und ebendiese «écriture», die «Schrift» und Dichtung steht zwischen diesen Auftritten im Zentrum der Tage: Die Büchnerpreisträgerin Marion Poschmann stellt ihren hochgelobten Roman über geisterhafte Frauen, dämonische Visionen und skurrile Heilrituale vor, das unfassbare Multitalent Ann Cotten schreibt für «Internethippieamazonen» abstruse Robinsonaden und entwickelt ein «Recycling von Theorien für Maschinen und Tiere», Tom McCarthy verortet seinen 2015 verfilmten Longseller 8 ½ Millionen, der die Mode des Re-Enactement in Theater und Performancekunst ausgelöst hat, im Kanon der Avantgarde und «écriture terroriste», und der wohl virtuoseste Wort-Klang-Künstler Michael Lentz erweitert die Lautpoesie mit seinem Mund und seinem Saxofon. Raoul Schrott demonstriert, wie das Wesen der Dichtung funktioniert und fliegt vom Monte Verità auf den antiken Berg der Musen in Griechenland quer durch wahnwitzige Biografien.
Ausserdem ist die italienische Schriftstellerin Claudia Durastanti mit ihrem neusten literarischen Coup zu Gast: Missitalia, ein Roman, der vom 19. Jahrhundert bis in die Zukunft weibliche Lebensentwürfe nachzeichnet und von Süditalien erzählt, seit jeher ein Terrain der Magie. Das italienische Verlagshaus L’orma von Marco Federici Solari und Lorenzo Flabbi wird für sein innovatives und couragiertes Programm und sein enormes literarisches Gespür mit dem Enrico Filippini Preis ausgezeichnet. Einer ihrer Autoren ist Frédéric Pajak, er setzt dem surrealistischen Manifest sein Ungewisses Manifest entgegen: 10 Bände in Comic-Form über van Gogh, Pavese und Nietzsche.
Schriftstellerin Djarah Kan, Comic-Zeichnerin Fumettibrutti und Aktivistin Alesa Herero performen am Samstagabend eine eigene, von Parzen inspirierte Kreation. Für Musik sorgt DJ Alan Alpenfelt an der Pop-up-Bar La Soleggiata. So werden auch dieses Mal alle Sinne angesprochen: Vom Geschmack, bei den kulinarischen Kreationen von Pietro Leemann, Sternekoch in der vegetarischen Tradition des Monte Verità, bis zum Gehör, beim Auftritt von Kety Fusco, die mit ihrer Harfe lautpoetische Klangwelten umspielt. Und der Neurowissenschaftler Giorgio Vallortigara entführt uns dann in die Weltsicht der Bienen
Das Auge wird mit Videoinstallationen zu Heidi Bucher und Hermann Hesse verzaubert, aber auch durch drei Filme, die den Bogen zum Locarno Film Festival schlagen: Ramata-Toulaye Sy zeigt und diskutiert mit Giona A. Nazzaro im Vorfestival im Otello Ascona Banel & Adama, der als Erstlingswerk in Cannes im Wettbewerb gezeigt wurde, und enthüllt am Freitag ihre Literaturleidenschaft; von Alejandro Jodorowsky, der die letzte Ausgabe der Eventi letterari mit einem fulminanten Auftritt krönte, wird El Topo gezeigt, und Milo Rau macht mit seinem Neuen Evangelium den Übergang zur Schlussrunde über «Das radikale Nein»: Der politische Aktivist Yvan Sagnet unterhält sich mit Milo Rau, Ann Cotten, Tom McCarthy und Stefan Zweifel über die Verklärung des terroristischen Aktes in der Moderne, den realen Kampf um Gerechtigkeit und die Faszination der Transgression von Tabus. Dabei zeigt sich, dass Poesie kein Eskapismus ist. Gerade Ausflüge in künstlerische Gegenwelten verleihen Kraft und Kreativität, um die politische Realität selbst zu verändern. Daran glaubten auch die Surrealisten, was sie in ihrer Résistance gegen den Faschismus eindrucksvoll unter Beweis stellten. Denn auch heute noch ist der Schutz der poetischen Kraft der Wörter vor ihrer ideologischen und politischen Vereinnahmung ein Akt der Resistenz.
Die zwölfte Ausgabe der Eventi letterari wird von der Associazione Eventi letterari Monte Verità gefördert, der Raphaël Brunschwig vorsteht. Die künstlerische Leitung liegt bei Stefan Zweifel in Zusammenarbeit mit Maike Albath und Stefano Knuchel. Organisatorische Leiterin ist Carmen Werner, Delegierter des Vorstands Marco Solari. Ein besonderer Dank geht an das Departement für Bildung, Kultur und Sport des Kantons Tessin, die Gemeinde Ascona, die Tourismusorganisation Lago Maggiore e Valli und an den Presenting Partner, die Mobiliar. Das Festival dankt auch den Kulturstiftungen, die das Projekt unterstützen.